
Ist Alkoholismus vererbbar?
Ich lebe in einer kultivierten, interessierten Familie. Ich habe einen älteren Brüder (22). Ich selber bin 20. Mein älterer Bruder, meine Eltern und ich führen oft Diskussionen und verstehen uns gut. Wir stehen alle gut im Leben. Nur, mein Vater trinkt manchmal zwei Flaschen Wein am Abend. Da er fast 2 Meter gross ist, ist er NIE, wirklich NIE betrunken. Aber er trinkt auffällig viel. Und das jeden Tag. Ich selber habe mich schon sehr oft betrunken. Meine Freunde finden das nicht schlimm, denn ich trinke ja nicht jeden Tag. Gestern habe ich meinen grossen Bruder in seiner neuen Wohnung besucht, mir ist aufgefallen, dass er sehr blass aussah und sehr dünn. Er war schon immer drahtig, doch jetzt kam er mir richtig abgemagert vor. Als ich in seinem Kühlschrank schaute, sah ich zwei leere Schnaps-Flaschen, ansonsten nichts. Ich sprach ihn darauf an, fragte ihn, ob sie für ihn alleine seien, doch er erwiderte drauf nur, dass sie nicht ganz leer waren und dass er nicht jeden Tag trinken würde. Mein Grossvater war Alkoholiker.
Ich frage mich halt, ob man es erben kann. Oder ob wir einfach eine Familie sind, die einfach sehr gerne trinkt, was ich auch geniesse und toll finde. Ich persönlich habe nicht immer das Bedürfnis nach Alkohol, aber ich merke halt, dass ich einfach oft Lust habe danach! Vor allem am Wochenende! Muss ich mir Sorgen machen?
Frage gestellt zu: Liebe, Sex und Freunde
Veranlagung
Liebe Carole
Alkoholabängigkeit kann viele Gesichter haben. Wenn jemand alkoholabängig ist, also süchtig, also ein Alkoholiker, dann können unterschiedliche Tatsachen darauf hinweisen: starkes Verlangen nach Alkohol / keine Kontrolle darüber wieviel man trinkt / Entzugssymptome wie Zittern, Schwitzen, Schlaflosigkeit oder anderes, wenn man nicht trinkt / man braucht immer mehr, um das gleiche Gefühl zu erreichen / man vernachlässigt für den Alkhol Dinge, die einem früher wichtig waren oder man trinkt weiter, obwohl die Gesundheit durch den Alkohol schon kaputt ist. Das muss nicht alles gleichzeitig sein, drei Dinge davon reichen schon und da es in unserer Welt "normal" ist Alkohol zu trinken (man wird ja eher schief angeschaut, wenn man nicht trinkt...), muss das überhaupt nicht auffallen. Auf der anderen Seite gibt es etwas, das Alkoholmissbrauch heisst. Das ist, wenn man zwar nicht abhängig mit den Merkmalen, die ich oben beschrieben habe, ist, aber genug trinkt, um körperlich und psychisch Schaden anzurichten. Wenn dein Vater zwei Flaschen Wein am Abend trinkt, kann das rein körperlich nicht gesund sein, was das psychische betrifft, kann ich so natürlich nicht beurteilen.
Dein Bruder und du, ihr trinkt wahrscheinlich wie ein grosser Teil der Jugendlichen oder jungen Erwachsenen immer wieder an Partys, wenn ihr ausgeht und so. Meistens betrinkst du dich dann ziemlich fest, so wie du es beschreibst. Ich muss dir sagen, dass auch wenn es "normal" ist im Sinne davon, dass es viele tun und es ja auch nicht unbedingt speziell auffällt, es körperlich und psychisch eben doch ziemliche Konsequenzen hat, auch wenn man es im Moment vielleicht nicht merkt. Dabei kann es natürlich zu akuten Alkoholvergiftungen kommen, bei denen man im Spital landet oder es eben doch irgendwie nach Hause schafft, aber eine ziemlich schlimme Nacht und einen schlimmen Morgen vor sich hat. Ausserdem ist ein häufiges sich Betrinken im Jugendalter einer der Hauptrisikofaktoren für eine spätere Alkholabhängigkeit.
Und damit komme ich zu deiner Frage, ob Alkoholismus vererbbar ist. Das Ding ist, dass nicht die Alkoholabhängigkeit selber vererbbar ist, aber die Veranlagung dazu. Das heisst, es ist in dir drin, doch es kommt erst zum Vorschein, wenn es einen Auslöser gibt, der eben das Konsumieren von Alkohol wäre. Dabei reichen bereits relativ kleine Mengen. Man weiss, dass Kinder von alkoholkranken Eltern ein etwa 5 Mal grösseres Risiko haben, selber Alkholiker zu werden, als andere Kinder. Einerseits weil sie eben die Veranlagung haben, andererseits weil ihre Eltern ihnen das Alkohol trinken "zeigen".
Das heisst jetzt nicht, dass dein Vater oder du und dein Bruder sowieso alkholabhängig seid oder werdet, doch ich denke: ja, du sollst dir Sorgen machen. Damit meine ich, dass du dir bewusst sein musst, dass man sich immer einer Gefahr (körperlich und psychisch) aussetzt, wenn man Alkohol trinkt, dass ihr eventuell gefährdeter seid als andere und dass man nicht erst Alkoholiker ist, wenn schon alles kaputt ist und es offensichtlich ist, sondern schon viel vorher. Alkoholiker können in unserer Gesellschaft problemlos vor sich hin Alkoholiker-sein, egal aus welcher Gesellschaftsschicht man kommt, ohne dass man es merkt. Es ist also wichtig, dass du bewusst trinkst und dir gegenüber aufmerksam bist. Wenn du das Gefühl hast, immer öfter Lust zu haben, immer mehr zu brauchen oder in immer mehr Situationen (also nicht nur am Wochenende) daran denkst oder trinkst, dann würde ich dir empfehlen zu einer Beratungsstelle zu gehen, um dich mal genauer zu informieren. Man kann Alkohol trinken, aber man muss auf der Hut sein.
Lieber Gruss, Kim